Predigt über Römer 2,1-11 und Vortrag "Was treibt die Menschen aus der Kirche?"

Die Predigt wurde im Gottesdienst zum Buß-und Bettag von Landesbischof i.R. Jochen Bohl gehalten. Im Anschluss fand eine Podiumsdiskussion statt. Kirchvorsteherin Dr. Annette Weidhas eröffnete sie mit dem sich an die Predigt anschließenden Impulsvortrag.

  • 16.11.2022 , Buß- und Bettag
  • Landesbischof i.R. Jochen Bohl, Kirchvorsteherin Dr. Annette Weidhas

Buß – und Bettag, 16.11.2022, St. Thomas Leipzig, Römer 2, 1-11, EG 154, 1-5

 

1Darum, o Mensch, kannst du dich nicht entschuldigen, wer du auch bist, der du richtest. Denn worin du den andern richtest, verdammst du dich selbst, weil du ebendasselbe tust, was du richtest. 2 Wir wissen aber, dass Gottes Urteil recht ist über die, die solches tun. 3 Denkst du aber, o Mensch, der du die richtest, die solches tun, und tust auch dasselbe, dass du dem Urteil Gottes entrinnen wirst? 4 Oder verachtest du den Reichtum seiner Güte, Geduld und Langmut? Weißt du nicht, dass dich Gottes Güte zur Buße leitet?

5 Du aber mit deinem verstockten und unbußfertigen Herzen häufst dir selbst Zorn an auf den Tag des Zorns und der Offenbarung des gerechten Gerichtes Gottes, 6 der einem jeden geben wird nach seinen Werken: 7 ewiges Leben denen, die in aller Geduld mit guten Werken trachten nach Herrlichkeit, Ehre und unvergänglichem Leben; 8 Ungnade und Zorn aber denen, die streitsüchtig sind und der Wahrheit nicht gehorchen, gehorchen aber der Ungerechtigkeit; 9 Trübsal und Angst über alle Seelen der Menschen, die Böses tun, zuerst der Juden und ebenso der Griechen; 10 Herrlichkeit aber und Ehre und Frieden allen denen, die Gutes tun, zuerst den Juden und ebenso den Griechen.

11 Denn es ist kein Ansehen der Person vor Gott.

 

Gruß, Stille

 

Liebe Gemeinde, 

als Feiertag gibt es den Buß- und Bettag nur noch bei uns, in Sachsen. Die anderen Bundesländer haben vor 28 Jahren den arbeitsfreien Tag gestrichen, um die Kosten der damals eingeführten Pflegeversicherung auszugleichen. Proteste gab es nicht, weder in Württemberg noch in Mecklenburg, und heute wird der Tag nicht vermisst; die Sachsen nutzen ihn zumeist als willkommene Gelegenheit zum Ausspannen. Der Gedanke, es sei notwendig oder sinnvoll Busse zu tun, ein Gebet mit der Bitte um Vergebung zu sprechen ist fremd geworden, abständig, unverständlich. Dem Verblassen des christlichen Glaubens folgt die Unkenntnis seiner Inhalte, zumal wenn sie so sehr den allgemeinen Sichtweisen widersprechen wie das für den Bußgedanken gilt. Er liegt quer zur Zeit. Sie sieht den Menschen als verbesserlich an, traut ihm optimistisch zu, das Gute verlässlich anstreben und tun zu können. Da stimmen wir zu;

allerdings kennen wir wie die allermeisten auch das Gefühl, etwas getan zu haben, was falsch, schädlich oder gar verderblich war, sich einen Irrtum oder eine verfehlte Handlung eingestehen oder vorwerfen zu müssen - Wie man mit Versagen und Schuld umgehen kann oder soll, das ist ein weites Feld. Vermutlich hat jeder seine eigene Strategie … sich selbst die Schwäche nachsehen, abhaken, positiv denken, beim nächsten Mal anders oder besser machen, Schwamm drüber, Augen zu und durch … Aber sich von Gottes Güte zur Buße leiten zu lassen? Was soll damit gemeint sein? Kaum zu erkennen, was die Worte des Apostels mit dem Menschenleben des 21. Jahrhunderts zu tun haben sollten.

Wenige Verse zuvor hatte Paulus einen Katalog  menschlicher Verhaltensweisen formuliert, den man kaum lesen mag (1, 28-31: die Menschen tun was nicht recht ist, 29voll von aller Ungerechtigkeit, Schlechtigkeit, Habgier, Bosheit, voll Neid, Mord, Hader, List, Niedertracht; Ohrenbläser, 30Verleumder, Gottesverächter, Frevler, hochmütig, prahlerisch, erfinderisch im Bösen, den Eltern ungehorsam, 31unvernünftig, treulos, lieblos, unbarmherzig); vermutlich sind schon damals die Adressaten in Rom zusammengezuckt. Eine geradezu atemlos vorgebrachte Aufzählung, eins kommt zum anderen, eine Schlechtigkeit folgt der nächsten – die Vielfalt des Bösen. Und das Schlimmste: sie kommt von den Menschen, die sich nicht so verhalten, wie sie es tun sollten, die in ihrem alltäglichen Leben immer wieder, wie gewohnheitsmäßig gegen den Geist der Menschlichkeit, das Liebesgebot Christi, den Willen Gottes handeln, aneinander schuldig werden, sich Leid zufügen. Das kritisiert Paulus – mit den schärfsten Worten, die überhaupt denkbar und möglich sind.

Vielleicht waren sie es, die dem christlichen Glauben bei seinen Verächtern den Ruf eingetragen haben, ein rabenschwarz-pessimistisches Menschenbild zu vertreten, das nur auf das Negative fixiert ist, und gerade darum die Menschen daran hindert, das Gute zu tun. Den Vorwurf erhoben die Ideologen, die hier auf Erden schon das Himmelreich errichten wollten. Das war eine optimistische Sicht, und wenn es auch vor 33 Jahren schien, als sei das Zeitalter der Ideologien vergangen - diese Kritik teilen noch heute die allermeisten.

Aber in ihr liegt eine Verzeichnung dessen, worum es dem Glauben geht. Christus dachte doch groß vom Menschen; so groß, dass er den Seinen sogar das Gebot der Feindesliebe zumutete. Darum wird, wer ihm vertraut, nicht die menschlichen Möglichkeiten klein- oder schlechtreden - aber sie auch nicht rosarot übertünchen. Vielmehr entdecken wir glaubend eine nüchterne Sicht auf uns selbst; realistisch-wahrhaftig wahrzunehmen, was es bedeutet ein Mensch zu sein. Und davon sind diese Worte des Apostels bestimmt.

 

Liebe Gemeinde,

wer Paulus von der Vielfalt und der Macht des Bösen reden hört, wird ja denken: das gibt es, das kenne ich, habe ich auch erlebt, vielleicht erleiden müssen – und sich schmerzlich daran erinnern, was daraus an Unheil erwachsen ist. Tatsächlich - es gibt Böses in der Welt, und die Wahrheit ist, dass es von Menschen gemacht wird. Wie auch die Verhältnisse und Umstände ihres Lebens. Und das ist nicht nur in der Ukraine oder Syrien der Fall, nicht nur an den Krisenherden der Welt, sondern das findet sich überall, es beginnt in den kleinen Lebenskreisen; sogar Kinder sind schon in der Lage, sehr unbarmherzig miteinander umzugehen. Das ist die Realität, wir kennen sie, man kann ihr nicht entgehen, Gutes wie Böses geschieht, manchmal unbeabsichtigt, gelegentlich willentlich, und all das ist menschlich; allzumenschlich sagt man dann mit einem gewissen Bedauern. Ein Philosoph (Kant) hat es auf den Punkt gebracht - der Mensch ist aus krummem Holz gemacht. In der Sprache des Apostels; wir sind Sünder allzumal. (Römer 3,23)

 

Und damit meint er jeden und jede. Auch diejenigen, die seine Sicht auf das Böse in der Welt teilen. Ihnen sagt er: ihr seid nicht anders als jene, denen ihr vorwerft, Böses zu tun, bildet euch doch nicht ein, ihr wäret die besseren Menschen oder auch nur etwas weniger schlecht -  werdet ehrlich gegen euch selbst. Beobachtet ihr denn nicht bei euch selbst, was ihr kritisiert? hochmütig,  31 unvernünftig, treulos, lieblos, unbarmherzig. Nein, niemand kann das Gute für sich in Besitz nehmen, Gutmenschen gibt es nicht, sei du realistisch-nüchtern mit dir selbst …

Der ehemalige Bundespräsident Gustav Heinemann, er war ein Glied unserer Kirche, stark geprägt durch den Kirchenkampf in der Nazi – Zeit, hat in einer heiklen Situation[1] einmal ein treffendes Bild gebraucht, das geeignet ist, die Meinung des Apostels zu verbildlichen: wer mit dem ausgestreckten Finger auf einen anderen zeigt, sollte sich nicht darüber hinwegtäuschen, dass drei Finger auf ihn selbst zurückweisen. Das ist eine unscheinbare Verschiebung des Blicks, aber wie schwer fällt es, diese Perspektive einzunehmen… dazu sind viele Menschen nicht in der Lage. Sie wähnen sich auf der richtigen Seite, richten sich in der wohligen Annahme ein, Gut und Böse seien übersichtlich geschieden, hier die einen, wir; dort die anderen, sie. Aber das ist eine Illusion, so ist es nicht. Wir sind zu beidem fähig, Luther sagte: sowohl gerecht als auch sündig sind wir. Mich jedenfalls hat er damit treffend beschrieben.

 

Liebe Gemeinde,

in der polarisierten Gegenwart erleben wir tagtäglich, dass die einen unbedingt fordern, was die anderen strikt ablehnen. Der Klimawandel muss jetzt gestoppt werden, koste es was es wolle – es gibt ihn gar nicht. Folge der Wissenschaft – denke quer. Migration bereichert das Land – die Fremden bedrohen unsere Lebensweise. Die Sprache muss die Unsichtbaren einschließen – so nimmt man ihr die Schönheit. Die Ukraine muss in ihrem Abwehrkampf unterstützt werden – mit Waffenlieferungen wird alles nur noch schlimmer, der Krieg verlängert. Und so weiter. Und so fort. Darüber ist es auf den Straßen laut geworden, in den Häusern aber still; man redet nicht mehr mit den andersdenkenden. Das liegt an der moralischen Überhöhung der je eigenen Auffassung: wir tun das gerechte, das Gute. Verbindet sie mit einer verächtlichen Abwertung abweichender Sichtweisen - sie sind nicht anderer Meinung, sondern schlechte Menschen. Es entsteht ein gefährlicher Zirkel mit Tendenz zur Eskalation, Gespräch, Verständigung; Ausgleich und Kompromiss werden so nachgerade unmöglich …  es kann nichts Gutes daraus werden. –

                                                                      

Als hätte er es kommen sehen, Paulus, im Geiste Jesu: Darum, o Mensch, kannst du dich nicht entschuldigen, wer du auch bist, der du richtest. Denn worin du den andern richtest, verdammst du dich selbst, weil du ebendasselbe tust, was du richtest Soll es besser werden unter euch, geht es nicht um die anderen und deren Fehler, Irrtümer, Schuld, sondern um dich. Der du auf dein Ich fixiert bist.

Wie man aus diesem selbstbezüglichen Zirkel herauskommt? – Weißt du nicht, dass dich Gottes Güte zur Buße leitet?

Ja, Gottvertrauen führt dazu, dass ein Mensch nicht mit seinem Ich allein bleibt, die Perspektive wechseln, den realistischen Blick auf sich selbst einnehmen kann. Es beginnt die Abkehr von der Konfrontation, von der Lust an der Trennung, durch Gottes Güte hebt sich der feindselige Blick, der andere wird kenntlich als ein Mensch wie ich, es beginnt die Umkehr. Einsicht in die eigene Beschränktheit, Zuwendung, Gespräch werden möglich. Sogar die Bitte um Vergebung. Das wirkt die Haltung der Buße. Zum Christenleben gehört sie dazu, ist durch die Taufe dem Glauben eingeschrieben. Sie kommt aus dem Vertrauen zu Christus, dem Friedensfürsten, der zur Umkehr ruft. Soll das Zusammenleben gelingen, wird sie gebraucht. Daran hat uns die Friedensdekade erinnert.

 

Liebe Gemeinde,

Buße, Umkehr ist der Weg ins Freie, der die Macht des Bösen wendet. Heute ist nicht der Tag, an dem wir uns empören über die Bösen in dieser Welt, sondern es ist der Tag, an dem wir uns selbst und unser Mensch-sein mit dem nüchternen Blick ansehen, zu dem uns der Glaube befreit. Er wirkt Hoffnung auf die Güte Gottes, die uns Frieden schaffen will. Darum wollen wir, die wir getauft sind auf den Namen Christi, sein Liebesgebot annehmen und in dieser Welt, in der Gutes und Böses so sehr ineinander verwoben sind, bewähren. Und dem Bösen widerstehen, Gutes wirken, Feinde lieben, Frieden schaffen. Paulus fragt:

Oder verachtest du den Reichtum seiner Güte, Geduld und Langmut? Weißt du nicht, dass dich Gottes Güte zur Buße leitet?

 

Amen.

 

Impulsvortrag: Was treibt die Menschen aus der Kirche?

 

Die evangelischen Kirchen und die katholische Kirche schrumpfen in Deutschland seit vielen Jahren. 2021 traten ca. 630.000 Glieder aus (280.000 aus den evangelischen Kirchen, knapp 360.000 aus der katholischen Kirche). Seit Ende 2021 vertreten die großen Kirchen nicht mehr die Mehrheit der Gesellschaft. Auch unsere Gemeinde hat in den beiden letzten Jahren über 500 Mitglieder verloren, ist von fast 5.000 auf 4.444 Mitglieder im Juni 2022 geschrumpft. Die Gründe dafür kreisen neben hausgemachten kircheninternen Problemen wie Missbrauchsskandale vor allem im katholischen Bereich und teils festgefahrenes Amtskirchentum auch bei uns Evangelischen um allgemein-gesellschaftliche Entwicklungen. Sechs Großtendenzen sind hier in der Hauptsache anzuführen:

 

  1. Demographische Entwicklung

In Deutschland lag die Geburtenrate 2020 bei 1,53 Kindern pro Frau. Damit war sie das vierte Jahr in Folge gesunken. Im Jahr 2021 wurden aber wurden mit 795 492 Neugeborenen rund 22 000 Babys mehr geboren als 2020, womit die Rate auf 1,58 Kinder je Frau wieder leicht stieg. Gleichzeitig steigt die Zahl der Einwohner durch die Migration. Beides betrifft aber wohl nur zum kleinsten Teil das Milieu evangelischer Christen, wodurch sich die Zusammensetzung der Gesamtbevölkerung ändert.

 

  1. Individualismus

Seit Jahrzehnten nehmen liberalistische Tendenzen hin zu einem radikalen Individualismus zu. Alles ist „wahr“, was der Einzelne denkt und fühlt. Denkt und fühlt er morgen anders, ist auch das wahr. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum assistierten Suizid ist eine direkte Folge dieser Entwicklung, ebenso der Entwurf zum neuen Selbstbestimmungsgesetz, wonach jede Person einmal im Jahr ihren Geschlechtseintrag ändern können soll. Verbunden mit dieser Individualisierung ist eine abnehmende Bereitschaft, sich dauerhaft in Institutionen oder Ehrenämtern zu engagieren.

 

  1. Institutionenverdrossenheit/Medienzersplitterung

Das Vertrauen in Institutionen (Staat, Parteien, Kirchen, Schule etc.) nimmt seit Jahren ab. Auch die Gründe dafür sind vielfältig, hängen aber auf jeden Fall mit wachsender Individualisierung und der Zersplitterung der Medienlandschaft nicht zuletzt durch die digitalen Medien zusammen. In diesen Problemkreis gehört eine gescheiterte Bildungspolitik, die gerade für unsere Thomaskirche folgenreich ist, ebenso wie für Gewandhaus, Oper und Theater – von den Verlagen nicht zu reden. Überall werden die Hörer und Leser älter und weniger. Was wird aus Literatur, wenn jetzt schon deutschlandweit 20 % der Viertklässler nicht mehr sinnverstehend lesen können? Nun ja: Auch zu Luthers Zeiten war die Kirche keine Kirche der Schrift, sondern eine des gesprochenen und gesungenen Wortes! Nur: Zuhören wollen und können Menschen auch immer weniger.

 

  1. Ideologieanfälligkeit

In dem Maße, wie die Deutungsmacht der Großinstitutionen abnimmt, öffnet sich der Raum für unterschiedliche Deutungsräume aktivistischer Gruppen von links bis rechts, von Woke-Communities bis hin zu neofaschistischen Gruppierungen. Einig sind sie sich weithin in der Ablehnung des christlichen Glaubens. Auf den Montagsspaziergängen treffen sich Menschen ganz verschiedener Colour. Die Thesen unter denen sie sich versammeln, werden dem sog. Populismus zugerechnet, womit die Tendenz zu einer einseitigen Vereinfachung strittiger gesellschaftlicher Fragen gemeint ist. Das betraf z. B. die Maßnahmen zum Schutz vor Corona, inzwischen geht es hauptsächlich um den Ukrainekrieg sowie die Haltung zu Russland und zur NATO. Die Gräben, die hier aufreißen, ziehen sich auch durch unsere Kirchen – Stichwort Friedenspolitik. Der Hang zur Vereinfachung globaler Krisen und zur säuberlichen Trennung in Freund und Feind findet sich aber nicht nur auf der Straße, sondern zunehmend auch an unseren Universitäten. M.E. ist der intellektuelle Populismus dort ein ebenso großes Problem. Teile der intellektuellen Elite (Universität, Politik und Medien) gerieren sich als eine Art neuen Klerus, der die Deutungshoheit über die Wirklichkeit beansprucht. Dagegen wehrt sich die Straße. Beide kämpfen um die Macht und die bürgerliche Mitte, die bisher das Rückgrat unserer Kirchen war wird aufgerieben.

 

  1. Säkularismus und Irrationalismus

Die Säkularisierung führt längst nicht mehr zu stärkeren rational-wissensbasierten Überzeugungen, sondern befördert inzwischen im Spirituellen wie im Politischen Meinungskämpfe, die geradezu religiösen Charakter annehmen. Wo der Glaube zur Vordertür rausgeht, kommt der Aberglaube zur Hintertür herein. Die Vorstellung, der Mensch erschaffe sich selbst und könne seine Person nach Gutdünken aus sich allein heraus konstruieren, ist irrationaler Aberglaube. Gleichzeitig kehren pagane Mythen zurück, die sich vor allem auf die Natur beziehen (Mutter Erde usw.) Damit einher geht eine antirationale Emotionalisierung vieler Lebensbereiche. Meinem Gefühl darf keiner widersprechen. Diskurse werden unmöglich, der sich emotional bedrohte Mensch verlangt nach sicheren Räumen, in denen er vor anderen Meinungen und Gefühlen geschützt ist.

 

  1. Moralismus

Die geschwächten Institutionen versuchen der gesellschaftlichen Zerfaserung entgegenzuwirken. Das Mittel dazu ist seit eh und je die Moral. Da in einer bekennend säkularen Gesellschaft mit verschie­denen Religionsgemeinschaften kirchliche Ethik die moralischen Gesellschaftsstandards nicht mehr vorgeben kann, bemühen sich Parteien und Staat um Moralkodizes. „Demokratie“, „Menschenwürde“ und „freiheitliche Selbstbestimmung“ sind die Schlüsselbegriffe. Inzwischen aber hat sich unserer Gesellschaft so diversifiziert, dass deren Interpretation neuen Streit provoziert. Hier aber verstehen verschiedene Player keinen Spaß mehr, hier endet das Individualprinzip. Statt diskursiv und argumentativ um Richtig oder Falsch zu ringen, wird es zunehmend beliebt, die Ansichten des Gegners als unmoralisch zu charakterisieren und ihn als Person abzuwerten. Da die meisten Menschen davor Angst haben, ist die Methode wirkungsvoll. Das Ergebnis sind cancel culture und eine gewisse Homogenität im staatlich und kirchlich geförderten Medienbereich. Befördert wird der Moralismus paradoxerweise durch die Überzeugung, dass der Mensch an sich gut sei, nur Gesellschaft dem guten Handeln entgegenstände. Hier kommt ein bestimmtes Aufklärungs-Diktum zum Tragen, das wir schon vom Kommunismus her kennen. Um dem Guten freie Bahn zu verschaffen, muss das Böse ein für alle Mal überwunden werden. Hier liegt der Grund für die Unversöhnlichkeit des Moralismus.

 

Diese Entwicklungen sind zum Teil auch für die eingangs genannten exorbitanten Austrittszahlen verantwortlich, da sie zu einem radikalen Traditionsabbruch führen. Wir können vielfach unsere Kinder und Enkelkinder nicht mehr überzeugen, der Kirche die Treue zu halten. VI. KMU 2022: Generell nennt – bei Protestanten wie bei Katholiken – nur eine Minderheit der Befragten einen konkreten Skandal als Anlass für den Austritt (24 Prozent bei den Ex-Protestanten, 37 bei den Ex-Katholiken). In erster Linie vollziehe sich der Austritt als Prozess, der häufig schon mit einer fehlenden religiösen Sozialisation beginne, so die Soziologin Ahrens von Sozialwissenschaftlichen Institut der EKD: "Eine empfundene 'persönliche Irrelevanz' von Religion und Kirche kristallisiert sich als wichtiger Faktor heraus." Gerade den ehemals Evangelischen gehe es dann beim Austritt auch darum, die Kirchensteuer zu sparen (71 Prozent). Denn warum sollen sie Geld geben für etwas, das ihnen nicht mehr wichtig ist?

Dem wollen unsere Kirchen begegnen, leider in Teilen ihrer Funktionärselite ebenso wie teils auf Gemeindeebene mit zwar verständlichen, aber m.E. nicht zielführenden Anpassungsstrategien, die auf Überanpassung hinauslaufen.

 

  1. In den letzten Jahrzehnten hat sich im Zuge der Liberalisierungstendenzen die Ansicht ausgebreitet, dass Kinder alles aus sich selbst heraus entwickeln müssten und könnten – auch den Glauben. So wurden Kinder oft nicht mehr getauft und auch nicht mehr zur Kirche geschickt, sie sollten sich als Erwachsene frei für oder gegen den Glauben entscheiden können. Aber wie soll man sich für etwas entscheiden, das man nicht erlebt und kennengelernt hat. Der immer pluraler werdende Religionsunterricht in unserer säkularen Gesellschaft kann das nicht auffangen, zumal auch hier die Beteiligungsraten fallen – bzw. im Osten immer niedrig waren. M.E. werden wir künftig wieder etwas wie die alte Christenlehre brauchen. Freilich mit anderer Didaktik.
  1. Der benannte Traditionsabbruch hängt zudem genuin damit zusammen, dass Glaube nicht mehr als etwas existenziell zum Menschen Gehöriges betrachtet wird, sondern als etwas, das man haben oder auch nicht haben kann, und das bestenfalls das Lebensgefühl steigert. Wir glauben nicht mehr um Gottes willen, sondern um unsertwillen. Gottesdienst ist nicht mehr Dienst an Gott, sondern Dienst an uns. Wenn er dann keine emotionale, ästhetische oder sonstige Steigerung des Lebensgefühls verschafft, gehen wir nicht mehr hin. Glaube wird so zu einer Art Wellness-Produkt, das man sich in einer Art Cafeteria-Melange selbst zusammenstellen kann, auf das man aber auch verzichten kann, wenn man ein passenderes Wohlfühlprogramm gefunden hat.
  1. Kommen konnte es zu dieser Banalisierung des Glaubens, weil der Kern der christlichen Botschaft – die Versöhnung des Sünders mit Gott und den Mitgeschöpfen – nicht mehr verfängt. Der Mensch ist schließlich sowieso gut. „Sünde“ als existenzielle Verfehlung Gottes, des Nächsten und sich selbst wurde abgeschafft – selbst in Teilen der Theologie. Gerade erschien ein sog. Dogmatik mit dem Titel „Lebenslehre“. Ihr reformierter Autor Klaas Huizing versteht Jesus Christus nur noch als Vorbild, als jüdisch-antiken Lehrer des guten Lebens. Sünde gibt es bei ihm nicht mehr, dafür um so mehr Moral. Das ist kein Widerspruch, sondern zwangsläufige Konsequenz. Nur wer von sich selbst weiß, dass er Sünder ist und bleibt, hat einen Grund, sich nicht über andere zu erheben. Nur der sich selbst als Sünder verstehende Mensch weiß, dass wir alle gleichermaßen auf Gottes Gnade angewiesen sind und nur durch sie zum Gerechten werden.
  1. In unserer Gesellschaft und selbst in unseren Kirchen rechnen immer weniger Menschen wirklich mit Gott. Selbsterlösung lautet die Devise. Wir sind es, die meinen, die Schöpfung retten zu können, und Gott als Herr der Geschichte scheint ausgedient zu haben. Warum also sollte man sich noch zur Kirche halten? Nicht zuletzt an dieser Stelle ist anzusetzen. Wir müssen wieder das Verständnis dafür schärfen, dass wir das Beste wollen können, aber Gott zum Wollen das Gelingen geben muss.
  1. M.E. sollten die Kirchen einer Überanpassungen an gesellschaftliche Trends wehren und Mut machen, das zu vertreten, wofür nur Christen stehen. Ein so aktuelles wie dringliches Beispiel dafür ist die Debatte um den assistierten Suizid. Bei dieser Gesetzgebung geht es ja nicht darum, einen begonnenen Sterbeprozess zu verkürzen. Das ist alles längst möglich. Aber ist es ethisch zu verantworten, einem 25-Jährigen, der Liebeskummer hat, den Giftbecher zu reichen? Zum Lebensschutz gerade am Beginn und am Ende des Lebens wie zum Umgang mit dem Tod haben Kirchen mehr zu sagen, als es politisch gerade genehm scheint.
  1. Vor allem aber identifizieren sich Teile unserer Kirchen zu sehr mit dem ganz speziellen politischen Überzeugungskorridor, der momentan Staatsräson ist. Die Hauptthemen auf der kürzlich zu Ende gegangenen EKD-Synode waren sexualisierte Gewalt, Tempolimit und Ökologie generell, Einwanderung, die Situation von Geflüchteten, der Streit um die Haltung zum Ukraine­krieg, Antidiskriminierung, Menschenrechtslage an den Außengrenzen der EU, Welternährung usw. Und selbst der Ausschuss für Schrift und Verkündigung befasste sich vor allem mit Öko-Theologie unter dem Stichwort Schöpfungsverantwortung. Das alles ist wichtig, könnte aber auch Programm eines Parteitages sein. Und wenn die Präses der Synode Anna Nicole Heinrich die "Unverhältnismäßigkeit“ kritisiert, „wie gerade jene behandelt werden, die zivilen Ungehorsam leisten" (gemeint sind die Aktivisten der Letzten Generation), dann verengt sie das Milieu, aus dem Kirche schöpfen soll, ausgerechnet auf eine Gruppe, deren Mitglieder zuallermeist nie einen Gottesdienst besuchen werden, und stößt dafür so manches Kirchenglied vor den Kopf.

 

Wenn wir wollen, dass Menschen in der Kirche bleiben oder neu zu ihr stoßen, müssen wir aufhören, uns austauschbar zu machen. Wir sind keine NGO. Natürlich wollen wir das Klima, Frauen- und Minderheitenrechte usw. schützen helfen. Aber das darf nicht zum Glauben selbst werden, sondern sollte ethische Folge unserer Ehrfurcht vor Gott sein. Das Reich Gottes bleibt unverfügbar, bleibt Verheißung. Wir neigen jedoch dazu, das Reich Gottes in die Welt aufzulösen. Zum Erntedankfest sangen wir das Lied: Wenn das Brot, das wir teilen“. Refrainartig heißt es dort: “dann hat Gott unter uns schon sein Haus gebaut, dann wohnt er schon in unserer Welt, ja dann schauen wir heut schon sein Angesicht“. Das ist in dieser Einseitigkeit falsch. Das Angesicht Gottes selbst schauen wir in dieser Welt nicht. Aber natürlich, Gott kam in Jesus Christus in die Welt, um uns zu zeigen, was der Mensch sein soll und in Gottes Augen ist. Dabei befreit uns Christus nicht zu uns selbst, sondern von uns. So jedenfalls nach Luther. Gott geht aber nicht in Christus und schon gar nicht in der Welt auf. Er bleibt ihr gegenüber. Darum ist nicht Weihnachten der Beginn des Christentums, sondern Ostern. In der Auferweckung Jesu bleibt Gott als der, der Jesus auferweckt, der Welt enthobener Initiator des Heils.

Glauben wir daran noch? Wenn ja, müssen wir uns wohl oder übel in der Kunst des „tätigen Wartens“ üben. Damit ist nicht einfach „Abwarten“ gemeint, sondern eine Art „Wartungs­dienst“ im Sinne eines Hegens und Pflegens des Glaubens, wie der Theologe Ulrich Körtner schreibt. Das Warten auf die Offenbarung bzw. die Wiederkunft Christi ist das Grundmotiv des NT. Entsprechend sprach auch Dietrich Bonhoeffer von der Kirche, die „wartet, indem sie arbeitet“. Aber eben nicht einfach im Sinne eines politischen Staatskirchentums, sondern durch die Arbeit im und am Glauben. Dadurch, dass sich Kirche nicht nur um die materiellen Nöte in aller Welt kümmert, sondern auch um die geistlichen Nöte der zweifelnden, aber nach Gott fragenden individuellen Menschen.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 


[1] Ostermontag 1968, nach dem Attentat auf Dutschke