Predigt über Ruth 1, 15-19a

  • 22.11.2017 , Buß- und Bettag
  • Pfarrer Joachim Zirkler

Predigt von Pfarrer Joachim Zirkler (Studienleiter beim Zentrum des Lutherischen Weltbundes in Wittenberg) in der Thomaskirche Leipzig am Buß- und Bettag, 22. November 2017, 09.30 Uhr

Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserem Vater und unserem Herrn und Heiland Jesu Christus. Amen.

Liebe Gemeinde,

„Gott sei gepriesen. Es ist vorbei. Der Präsident hat abgedankt!" - Das schrieb mir gestern Abend ein Bischof aus Simbabwe, den wir kürzlich in Dresden zu Gast hatten, der an einem Seminar in Wittenberg teilnahm und seit Sonntag wieder zu Hause ist.
19 Mio. Einwohner hatte das Land vor 20 Jahren. Heute sind es 16 Mio. 3 Mio. haben das Land verlassen, sind geflohen, vor allem nach Südafrika, weil sie Hunger litten.
Hunger nach dem täglichen Brot, nach Freiheit, nach selbstbestimmtem Leben. Jetzt ist die Hoffnung stark, dass ein großer Teil von ihnen wieder zurückkehrt.

Ein Flüchtlingsdrama von vielen auf unserer Welt.
Geschichten von Flucht und Wiederkommen hat es zu jeder Zeit gegeben. In unserer deutschen Geschichte. In der Menschheitsgeschichte. Wieder und wieder.

Für den heutigen Tag habe ich als Grundlage der Predigt eine Flüchtlingsgeschichte aus dem Alten Testament ausgesucht. Die Geschichte von Naomi und ihrer Schwiegertochter Rut.
Im ersten Kapitel heißt es:

Text: Rut, 1, 15 - 19a
15 Naomi aber sprach: Siehe, deine Schwägerin ist umgekehrt zu ihrem Volk und zu ihrem Gott; kehre auch du um, deiner Schwägerin nach.
16 Rut antwortete: Bedränge mich nicht, dass ich dich verlassen und von dir umkehren sollte. Wo du hingehst, da will ich auch hingehen; wo du bleibst, da bleibe ich auch. Dein Volk ist mein Volk, und dein Gott ist mein Gott.
17 Wo du stirbst, da sterbe ich auch, da will ich auch begraben werden. Der HERR tue mir dies und das, nur der Tod wird mich und dich scheiden.
18 Als sie nun sah, dass sie festen Sinnes war, mit ihr zu gehen, ließ sie ab, ihr zuzureden.
19a So gingen die beiden miteinander, bis sie nach Bethlehem kamen.

Liebe Gemeinde,
Die Geschichte von Rut und Naomi ist eine Flucht- und eine Integrationsgeschichte.
Ein Mann verlässt mit seiner Frau und zwei Söhnen die angestammte Heimat in Bethlehem, weil eine Hungersnot im Lande herrscht und geht nach Moab. Er muss die Entscheidung treffen: Gehen oder bleiben? Einen neuen Anfang wagen dort, wo man sich nicht auskennt, aber keinen Hunger leidet? Oder überwintern ohne Nahrung und warten bis es besser wird? Und Hunger kann lebensbestimmend werden. Der Hunger nach Nahrung für den Leib, für den Geist und für die Seele.
Er entscheidet sich für das Gehen und zieht mit seiner Familie los.

Im Königreich Moab, östlich des Toten Meeres, im heutigen Jordanien, finden sie als Fremde Zuflucht und bauen ihr Leben neu auf.
Einige Jahre später stirbt der Mann, doch seine Frau Naomi bleibt versorgt, denn ihre Söhne heiraten Orpa und Rut - Frauen des fremden Landes. Die Familie hat sich integriert und neue Heimat gefunden. Es gibt Nahrung für Leib, Seele und Geist. So kann man zurechtkommen in einem neuen Land.

Dann sterben die Söhne und damit funktioniert das System Familie nicht mehr. Die Fremdheit wird spürbar. Die verstorbenen Männer haben keine Verwandten im Land und für Witwen gibt es keine Versorgung ohne männliche Verwandtschaft. Da kann neuer Hunger aufkommen.
Bei Naomi melden sich die Wurzeln. Sie denkt an ihre Kindertage, an die Eltern und Großeltern, an die erste Familienzeit als ihre Söhne noch klein waren. Sie spürt ihre Verbundenheit mit dieser Geschichte und dem Land ihrer Vorfahren.

Krisensituationen erinnern an die eigenen Wurzeln und lassen nachdenken, wohin man gehört, wo man leben und wo man sterben möchte.
Für Naomi ist es klar: Ohne Mann, ohne Söhne gibt es nur einen Weg - zurück in die alte Heimat.
Dort hat sich die Situation geändert: Niemand leidet mehr Hunger. Es gibt genug für Leib, Seele und Geist. Zumindest für die, die dort sind. Aber wie wird es einer Rückkehrerin gehen?

Das wird sich später zeigen, denkt sie. Jetzt muss ich los. Naomi macht sie sich auf den Weg. Und ihre beiden Schwiegertöchter kommen mit. Sie sind wie sie selbst mittellos und unversorgt und wollen den Weg gemeinsam gehen. Besser mit der Schwiegermutter in Neuland gehen als hier abwarten was kommt.

Naomi redet ihren Schwiegertöchtern ins Gewissen. Es ist großartig von euch, dass ihr mitgehen wollt, aber was wollt ihr mit mir alten Frau in der Fremde? Ich kann keine Söhne mehr gebären - und selbst wenn, wolltet ihr so lange warten bis sie erwachsen sind, damit ihr sie dann heiraten könnt? Es macht keinen Sinn. Bleibt ihr dort, wo ihr hingehört und ich gehe dorthin, wo ich hingehöre.

Orpa denkt nach. Sie spürt, dass ihre Verbundenheit mit der Heimat bei aller Ungewissheit stärker ist als ihre Verbindung zur Schwiegermutter. Sie folgt ihrem Rat und geht zurück. Nun wendet sich Naomi an Rut:
Siehe, deine Schwägerin ist umgekehrt zu ihrem Volk und zu ihrem Gott; kehre auch du um, deiner Schwägerin nach.

Rut kann es ihrer Schwägerin nicht gleichtun. Bei ihr ist die Verbindung zur Schwiegermutter stärker als die Verbundenheit mit ihrer Heimat und sie antwortet:
Bedränge mich nicht, dass ich dich verlassen und von dir umkehren sollte. Wo du hingehst, da will ich auch hingehen; wo du bleibst, da bleibe ich auch.
Menschen sind unterschiedlich und das wird ohne Wertung festgehalten. Die einen können gehen, die anderen können bleiben. Beides hat sein eigenes Risiko und seinen eigenen Wert.
Für die einen zählt letztlich doch mehr die Heimat, das Gewohnte. Diese Wurzeln sind so tief, dass sie ohne extreme Not nicht verlassen werden können. Das erkennt Orpa und geht zurück. In der gewohnten Umgebung wird sie besser zurechtkommen.

Für andere ist die menschliche Beziehung das wichtigste. Hauptsache, an der Seite des Menschen sein, dem alles Vertrauen gilt, ohne den Leben nicht mehr vorstellbar ist.
Das erkennt Rut: Ganz gleich, wo dieser Mensch, Naomi, hingeht, an seiner Seite fühle ich mich zu Hause. Diesen Menschen brauche ich mehr als die Tradition. So tief reichen meine Wurzeln nicht.

Menschen sind unterschiedlich.
Und insofern ist es ein Segen, wenn niemand zur Flucht gezwungen wird. Seit 28 Jahren leben wir in einem Land, in dem niemand zum Weggehen genötigt wird. Ein Land, in dem die Orpas, die Rut's und die Naomis‘ alle ihre Chance haben. Ein Land, aus dem man weggehen kann. Ein Land, in das man wiederkommen kann. Was für ein Geschenk in dieser Welt! Was für ein Segen!

Weggehen hat weitreichende Konsequenzen. Rut erkennt das hellsichtig:
Dein Volk ist mein Volk, und dein Gott ist mein Gott.
17 Wo du stirbst, da sterbe ich auch, da will ich auch begraben werden. Der HERR tue mir dies und das, nur der Tod wird mich und dich scheiden.

Wenn ich einem anderen Menschen folge und in seiner Heimat richtig ankommen will, dann muss ich seine Familie, seine Freunde, sein Volk als das meine akzeptieren und genauso seine Wertvorstellungen - möglichst bis hin zu seiner Religion - übernehmen. Dann kann Integration völlig gelingen.

Genau das ist die Schwierigkeit, mit der wir in den letzten Jahren zu tun haben. Die meisten Geflüchteten sind nicht freiwillig gekommen. Sie sind vor Krieg, Terror und Unterdrückung geflohen.
Und da gibt es nicht nur die Naomis und die Ruts, denen es leichtfällt, sich mit anderen Verhältnissen anzufreunden und sich mit neuen Menschen anzufreunden. Es gibt auch die Orpas, deren Wurzeln zu Hause so tief reichen, dass es für sie unendlich schwer ist, sich in der Fremde einzuleben.

Dafür braucht es Verständnis und Mitgefühl.
Vor zwei Jahren als die vielen Geflüchteten ins Land gekommen waren, gab es nicht nur Proteste, es gab auch eine große Welle der Empathie und Hilfsbereitschaft.
Es ist ruhig geworden um das Thema in der Öffentlichkeit. Die Politiker streiten um Obergrenzen und Familiennachzug aber sonst spielt das Thema medial keine große Rolle mehr. Wir, die oft schweigende Mehrheit - und ich rechne mich hier bewusst dazu - haben dieses Thema inzwischen verdrängt und sind froh, dass es uns nicht mehr täglich so nahekommt.
Ich denke, der Buß- und Bettag ist eine gute Gelegenheit, sich dieses Themas wieder anzunehmen - insofern Dank an die Thomasgemeinde für den heutigen Thementag!

Als Naomi nun sah, dass Ruth festen Sinnes war, mit ihr zu gehen, ließ sie ab, ihr zuzureden.
Die beiden verstehen jetzt einander und akzeptieren, dass bei aller Verschiedenheit in der Herkunft, im Alter und im Glauben, ein Weg vor ihnen liegt, den sie nur gemeinsam und nicht getrennt bewältigen können.

Schließlich erreichen sie die alte Heimat von Naomi - das fremde Land für Rut. Einfach ist es nicht. Doch Naomi ist weise und nutzt ihre alten Kontakte. Rut wiederum ist jung, hübsch und klug. Beide können einander vertrauen und kommen schließlich gut und behütet in einem neuen Leben an. Eine Flucht- und Integrationsgeschichte, die gut endet.

19a So gingen die beiden miteinander, bis sie nach Bethlehem kamen.
Das ist die Zusammenfassung der Geschichte von Naomi und Rut und aller Weggeschichten zwischen Gehen und Bleiben: Miteinander gehen bis wir ankommen dort, wo unsere Heimat ist - in Bethlehem.

Unser Weg durchs Kirchenjahr führt stets nach Bethlehem. Die Wege aller Menschen führen nach Bethlehem. Dorthin, wo die Hoffnung neu geboren wird. Dorthin, wo uns Gott ganz nahekommt, der uns erlöst und endlich ankommen lässt.

Im Seminar in Wittenberg, an dem der Bischof aus Simbabwe teilnahm, waren insgesamt 20 Teilnehmende aus 16 Ländern. Einige hatten in ihren Ländern dramatische Geschichten hinter sich.
Sie verabschiedeten sich Hand in Hand stehend mit einem afrikanischen Lied, das übersetzt ungefähr so heißt:

„Wir sind verschieden und gehören zusammen, wir kommen von Gott und wir gehen zu ihm. Ganz gleich, wo wir sind, nichts kann uns mehr trennen. Das trägt uns durchs Leben."

Und der Teilnehmer aus Jordanien sagte: „Ihr alle seid eingeladen. Wir sehen uns wieder in Bethlehem."

Gott segne unsere Wege und geleite uns zum Ziel! Amen.

Zirkler@dnk-lwb.de

 

Fürbitten Buß- und Bettag 2017
(von Kirchvorsteher Stefan Hüneburg)

Unser Gott
Vor Gewalt, Elend und Tod fliehen von so vielen Orten dieser Welt Menschen.
Es sind so viele Orte, dass wir sie dir nicht alle klagen können.
Es sind so viele Menschen, über 65 Millionen sollen auf der Flucht sein,
dass der Einzelne für uns kein Gesicht mehr hat.

Wir bitten dich, lass diese Menschen in ihrer Not nicht allein, sende ihnen Hilfe und Helfer, öffne die Herzen derer, die sich feindlich gegenüberstehen und stifte Frieden.
Wir rufen zu dir, Herr erbarme dich.

Unser Gott
In unserer Mitte leben Menschen, denen wir uns verschließen, vor denen wir Angst haben, die uns fremd oder gleichgültig sind. Wir hören diese Menschen nicht, Sprachlosigkeit und Einsamkeit breiten sich aus.
Wir bitten dich, gib uns die Fähigkeit auf die oft stillen Rufe zu hören, die Einsamkeit zu sehen, gib uns die Kraft, unsere Grenz zu überwinden und uns dem, der uns braucht, zuzuwenden.
Wir rufen zu dir, Herr erbarme dich.

Unser Gott
Du hast uns gerufen, dir und unserem Nächsten zu dienen,
aber wir haben oft andere Pläne, achten nicht auf dein Wort, verschließen uns deinen Zeichen.
Wir hören nicht, wenn du rufst „Adam, wo bist du".
Wir bitten dich, lass uns erkennen, dass wir in unserer Unvollkommenheit, wenn wir gescheitert oder wir uns fremd geworden sind, von dir zuerst geliebt worden sind, du mit uns durch deinen Sohn Frieden geschlossen hast. Und wir deshalb jeden Tag wieder neu beginnen können.
Wir rufen zu dir, Herr erbarme dich.

Unser Gott
Wir bitten dich, lass uns angesichts dieser Not nicht verzagen, gib uns den Geist der Kraft, der Liebe und der Besonnenheit um zu erkennen, wo wir und wie wir handeln können und müssen.
Lass uns erkennen, dass wir ein Teil deiner Schöpfung sind und du uns in deinen Dienst gerufen hast.

Wir rufen zu Dir, Herr erbarme dich.

Amen.