Predigt zum Evangelium Rogate 1724 entsprechend BWV 86

  • 05.05.2024 , 5. Sonntag nach Ostern – Rogate
  • Pfarrer Lüder Laskowski

Predigt zum Evangelium Rogate 1724 entsprechend der Bachkantate „Wahrlich, Wahrlich, ich sage euch“, BWV 86

 

Liebe Gemeinde,

Beten sie täglich? So wurde in der letzten Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung gefragt und gerade 15,1 % der Evangelischen sagten daraufhin: ja. Das waren noch einmal 2 % weniger als 2002. Bei den Katholischen sank diese Zahl sogar um fast 14 % und liegt nun auch nicht mehr höher als bei den evangelischen Schwestern und Brüdern.

Das Gebet hat offenbar seine Plausibilität verloren. In Zwiesprache mit Gott zu gehen ist verzichtbar. Es lebt sich auch ohne Gebet. So oder so. Gelingen, Freude, Glück hat man verdient. An Sorge, Trauer, Tod ändert sich durch das Gebet auch nichts. Glück wird genossen, es ist selten und darum kostbar. Leid wird ertragen, es ist der Normalzustand, mit dem man eben umgehen muss – oder man schaut einfach weg solange wie möglich.

Doch das abnehmende Gebet ist ja nur ein Symptom. Dahinter steht eine tiefergehende Plausibilitätskrise. Denn beten erwartet jemanden, der hört. Ich spreche keine Bitte aus, wenn ich nicht damit rechne, dass mir geholfen wird. Ich danke nicht, wenn ich nicht sehe, dass ich etwas bekommen habe. Die Krise des Gebets ist eine Beziehungskrise. Dem Gebet ist das Gegenüber abhanden gekommen. Gott ist weg. Oder er hat sich zumindest aufgelöst in Vorstellungen jenseits der Personalität. Er ist schlicht nicht mehr ansprechbar, weil er nicht mehr als Antwortender gedacht werden kann. Und in diese prekäre Lage hinein spricht Jesus heute den großen Satz: „Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wenn ihr den Vater um etwas bitten werdet in meinem Namen, wird er’s euch geben.“ Der Satz war schon immer eine Provokation und hielt der Realität nicht stand. Heute klingt er in den meisten Ohren nur noch albern.

Oft wird gesagt, dass sich die weltanschaulichen Voraussetzungen so sehr verschoben haben, dass wir völlig neu denken und sprechen müssten. Ich bin mir da nicht so sicher. Denn wir leben doch immer noch genauso in einem unauflöslichen Ineinander von Angst und Vertrauen, von Verzweiflung und Hoffnung, von Tod und Leben, wie die Menschen schon immer. Und wenn auch nicht die Plausibilität Gottes an sich derart in Frage stand wie heute, kannten die Alten sehr wohl das Gefühl, dass da keiner hört, dass der Mensch auf sich selbst zurückgeworfen ist.

Martin Luther hat das im Hinblick auf Gott immer wieder reflektiert. Er selbst wusste nur zu gut, wie es ist, keine Antwort von Gott zu bekommen, bis hinein in tiefe Dunkelheit, in das Gefühl, das Leben und seinen Sinn verfehlt zu haben. Er nannte diesen stummen Gott den deus absconditus, den abwesenden Gott. Er blieb in dessen Beschreibung erst einmal ganz Diesseitig und dachte aus der schmerzhaften Erfahrung des Menschen, aus seiner eigenen Wahrnehmung heraus. Vergeblich sucht der Mensch Trost. Je tiefer er in die Welt blickt, desto weniger sieht er, was er sich ersehnt. Da ist kein Frieden. Da ist keine Gerechtigkeit. Da ist keine Liebe. Ganz im Gegenteil. Denken macht traurig. Je tiefer man sich in die verhängnisvollen Zusammenhänge hineindenkt, in denen die Welt sich bewegt, desto mehr sinkt die Hoffnung. Diese Beobachtung ist keine des 16. Jahrhundert. Sie ist eine menschliche. Sie ist tagesaktuell. Wenn man morgens das Radio anschaltet. Wenn man in der Pause mit Kolleginnen und Kollegen zusammensitzt. Wenn man den zufälligen Gesprächen im Zug lauscht.

Das ist eine Welt ohne Gott. Für den Menschen des 16. Jahrhunderts zwar prinzipiell undenkbar. Für uns heute – siehe oben – aber mehr als nur eine Hypothese, für die allermeisten Menschen sogar Denkvoraussetzung. Wir könnten also hier abbrechen und es bei der Diagnose belassen. Doch das wäre als würden wir sagen: Denken macht traurig, also lassen wir einfach das Denken. Können wir gar nicht. Wir können nicht nicht denken. Darum würde ich sogar soweit gehen zu sagen: eine Welt ohne Gott kann nie mehr als eine Hypothese sein. Die einen würden sagen, das Gedankenspiel „Gott“ muss an der gelebten Wirklichkeit zerschellen. Ich glaube daran, dass es anders herum besser ist: das Gedankenspiel „Welt ohne Gott“ sollte an der gelebten Wirklichkeit zerschellen. So hat sich Luther auch entschieden.

Er hört hier nämlich nicht auf zu denken, sondern er beginnt erst. Er wechselt die Perspektive. Wie ist diese Erfahrung des „abwesenden Gottes“ von Gott her zu denken? Er kann sie sich nur erklären, indem er voraussetzt, dass Gott abwesend sein will. Und das ist ein Satz der nichts erklärt. Denn sich auszudenken, warum Gott abwesend sein will, geht über den Horizont. Luthers Horizont, aber auch unseren. Erinnern sie sich an das Gedicht aus meiner Begrüßung: Gott ist ganz anders. Wir können nicht von Gott her denken. Es ergibt keinen Sinn. Das macht ja so zu schaffen in Leid und Verzweiflung.

Luther bleibt also bei dem, was er sagen kann, nämlich was dieser abwesende Gott für ihn ist. Es ist der Gott, der sich nicht gezeigt, der sich nicht offenbart hat. Weiter gedacht: es ist der nicht gepredigte, der nicht (in den Sakramenten) dargereichten, der nicht verehrte Gott. Gott ist außerhalb der gelebten Wirklichkeit. Sein lebensspendendes Wort hat uns nicht erreicht. Es ist Gott außerhalb seiner Beziehung zum Menschen. Jenseits der Verheißungen. Jenseits des Christus, in dem Gott sich den Menschen gezeigt hat. Jenseits des Gebets. Es ist Gott ohne Offenbarung.

Was ein Widerspruch in sich ist, da wir doch von den Verheißungen, von Christus wissen. Der deus absconditus ist immer zugleich auch der deus revelatus. Der abwesende Gott ist zugleich auch immer der offenbarte Gott. Der Gott, der sich uns nicht zeigt ist zugleich immer auch der Gott, der sich uns gezeigt hat und wieder zeigen wird. Wir wissen um seine Abwesenheit sogar nur darum, weil wir seine Offenbarung kennen. Es gibt also keine Abwesenheit ohne Offenbarung. Mit heutigen Worten gesagt: schon in der Sehnsucht ist Gott.

Genau hier kommt Johannes der Evangelist ins Spiel. Er schreibt wie aus einem Zettelkasten die ihm wichtigsten Jesusworte in einer langen Rede zusammen. Es ist die Abschiedsrede Jesu an seine Jünger. Also eine extreme Situation, in der Angst, Unverständnis, Enttäuschung, Ohnmacht sich mischen. Aber fast an deren Ende sagt Jesus eben diese starken provokanten Worte. Er spricht an gegen die Welt wie sie ist, gegen eine Welt, in der Gott abwesend ist: „Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wenn ihr den Vater um etwas bitten werdet in meinem Namen, wird er’s euch geben.“ Es ist ein Satz, der Realität schafft, als er gesagt wird. Die Jünger verstehen endlich. Für sie wendet sich das Blatt. Der abwesende Gott hat sich gezeigt in eben diesem Moment. Für Luther ist das einer jener Sätze, in denen Gott nun auch uns anspricht und dadurch seine Abwesenheit durchbricht. Er würde sagen: Menschen brauchen solche Sätze. Sie können sonst nichts wissen über Gott.

In der eben gehörten Kantate haben sich der unbekannte Textdichter und Bach diesen Satz ganz im Sinne Luthers sagen lassen. Sie arbeiten sich in diese Theologie hinein. Sehen Sie bitte noch einmal in den Text. Zwar beginnt die Kantate mit dem Jesusvers. Damit ist das Thema „Gebet“ gesetzt. Es wird aber nicht entfaltet, sondern wird schon im ersten Bild in Spannung zur Offenbarung gesetzt. Noch bevor von den Dornen die Rede ist, wird das wunderbare Wort Rose gesungen. Und gleich in einem Parallelismus: noch bevor Bitten und Flehen zur Sprache kommen, fällt das Wort Zuversicht. Das hat seinen Grund, wie gleich klar wird. Denn das Wort ist schon gesprochen. In jedem einzelnen Teil der Kantate wird das in immer wieder neuen Varianten wiederholt. Weil Gott immer wenn er der Abwesende zugleich auch der Offenbare ist. Bach gelingt es meisterhaft zwischen diesen beiden Perspektiven zu wechseln, sie in spielender Leichtigkeit zu verweben, sodass deutlich wird: es ist der eine Gott, von dem wir hier sprechen. Der Gott, der vor aller Abwesenheit immer schon da war und nach aller Abwesenheit immer schon da sein wird. Und – die erste Choralstrophe spielt auf den letzten Tag an – auch am Ende des Lebens.

Es ist kein billiger Trost, den Bach hier leichthin auf die Gläubigen nieder rieseln lässt. Wir sollen nicht vertröstet werden, weil sich unsere Gebete nicht erfüllen. Im Sinne Luthers sind Dichter und Komponist davon überzeugt – und geben uns diese Überzeugung nun weiter – dass schon erfüllt ist, was wir erbeten haben. Und wir darum sicher sein können, dass sich erfüllt, was wir bitten.

Darum beten wir in die Abwesenheit Gottes hinein. Weil wir von ihr nur wissen können, weil Gott sie schon durchbrochen hat. Noch einmal Verse aus dem Gedicht vom Anfang des Gottesdienstes.

Gott ist ganz anders

Aber er sucht dich

Wenn du dich finden lässt

Er findet dich

Wenn du ihn suchst.

Und der Friede Gottes, welcher höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Jesus Christus. Amen.