Predigt zum Pfingstmontag

  • 20.05.2024 , Pfingstmontag
  • Prof. Dr. Dr. Andreas Schüle

Predigt zum Pfingstmontag 2024, St. Thomas zu Leipzig

Prof. Andreas Schüle

 

Liebe Gemeinde,

vielleicht erinnern Sie sich an den Film „Das Leben der Anderen“ – sicher eine der sehenswertesten deutschen Produktionen der letzten zwanzig Jahre. 2006 kam er in die Kinos. Wenn Sie ihn gesehen haben, erinnern Sie sich vermutlich auch noch an den Satz, mit dem dieser Film fast abrupt endet. Dieser Satz lautet: „Das ist für mich!“

Als ich begann, über den heutigen Pfingstgottesdienst nachzudenken, kam mir unweigerlich dieser Film und eben dieser Satz „Das ist für mich!“ in den Sinn. Denn darin liegt tatsächlich etwas sehr Pfingstliches. Wie kommt es zu diesem Satz? Der Film spielt im Ostberlin der DDR-Zeit und handelt von dem Stasi-Offizier Gerd Wiesler, der mit der Überwachung eines suspekten Schriftstellers, namens Georg Dreyman, beauftragt wird. Der steht im Verdacht, regimekritische Texte zu publizieren und kaltgestellten Kollegen die Flucht in den Westen zu ermöglichen. Wiesler beginnt mit der Bespitzelung, und bald bestätigt sich sein Verdacht. Irgendwann hat er hat alles, was er braucht, um Dreyman zu überführen. Aber im entscheidenden Moment zögert er, lässt die Falle nicht zuschnappen. Auf einmal zweifelt er am Sinn dessen, was er da tut. Seine eigene Frustration über die Dekadenz seiner Vorgesetzten setzt ihm zu, und so entschließt er sich, die Überwachungsprotokolle zu fälschen. Dreyman kommt, ohne etwas zu ahnen, ungeschoren davon.

Ein paar Jahre später, nach der Wende: Dreyman nimmt Einsicht in seine Stasi-Akten und entdeckt, was damals geschehen war. Er begreift schnell, dass sein Schicksal am seidenen Faden gehangen hatte und dass er dem ihm unbekannten Stasi-Offizier sein glückliches Schicksal zu verdanken hatte. Nur dessen Dienstnummer „HGW XX/7“ steht in der Akte. Und so widmet er dem Unbekannten sein jüngstes Buch, das den sprechenden Titel trägt „Die Sonate vom guten Menschen“.

Wiesler auf der anderen Seite war es nicht so gut ergangen. Seine Regimetreue war fraglich geworden, und so verbrachte er die letzten Jahre der DDR damit, im Keller der Stasi-Zentrale Briefe unter Dampf zu öffnen. Nach der Wende trägt er Werbeprospekte aus. Seine Tour führt ihn an einer Buchhandlung vorbei, und dort sieht er eines Tages Dreymans neues Buch im Schaufenster. Neugierig geht er hinein, schlägt das Buch auf und entdeckt die Widmung „HGW XX/7 gewidmet, in Dankbarkeit“. Sichtlich berührt nimmt er das Buch, geht zur Kasse und bezahlt. Der Verkäufer fragt, ob er das Buch als Geschenk einpacken soll. Darauf Wiesler: „Nein, das ist für mich!“

Es sind besondere, intime Momente, wenn so etwas geschieht, wenn man weiß, dass da wirklich etwas für mich gemeint ist, mich tief berührt, an allen Verletzungen des Lebens vorbei etwas Gutes und Heilvolles mit mir macht. Für jemanden wie den fiktiven, aber doch auch erschreckend realen Charakter des Gerd Wiesler, der sich ein Leben lang in einer Welt von Schein, Intrige, Misstrauen und Manipulation bewegte, ist es vielleicht das erste Mal, dass ihm etwas Echtes und Gutes widerfährt. Manchmal muss man lange auf solche Momente warten, von denen man aber auch lange zehrt.

Pfingsten, liebe Gemeinde, ist die Geschichte von Menschen, die so etwas erleben, die tief berührt, die aus Unsicherheit und Angst herausgeholt werden. Die Apostelgeschichte berichtet davon, dass sich die Anhängerschaft Jesu in Jerusalem an „einen Ort“ zurückgezogen hatte, wie es da etwas nebulös heißt. Irgendwie seltsam: Ostern war doch geschehen, Christus war auferstanden, eigentlich würde man denken, dass die Jünger und die Frauen vor Zuversicht, Kraft und Freude hätten strotzen müssen. Ostern hätte doch ein Aufbruch, der Beginn von etwas Neuen sein müssen. Aber ganz so war das wohl nicht. Eher im Gegenteil, die Jüngerschaft wirkt gelähmt, verunsichert und unschlüssig darüber, was nun eigentlich werden soll. Fast hat man den Eindruck, dass man sich verschanzt hatte und nur ja nicht auffallen wollte, bis sich irgendetwas klären würde. Was an Ostern geschehen war, war noch nicht angekommenen. Noch war da niemand, der hätte sagen können: „Ja, das ist für mich.“

Und dann geschieht es doch. Die Türen und Fenster gehen auf, aus den versprengten und verschüchterten Galiläern wird eine Gemeinschaft, die ihre Sprache findet und den Mut zu sagen, was ihnen auf dem Herzen brennt. Aus Depression wird Passion, aus Orientierungslosigkeit wird Glaube. Da war etwas passiert, da war nun doch etwas angekommen. Die Bibel nennt es Geist – Geist Gottes. Ohne dieses Ereignis, ohne Pfingsten, säßen wir heute nicht hier. Wenn es nicht diese, im wörtlichen Sinne, Be-geisterung der ersten Christinnen und Christen gegeben hätte, wäre die Botschaft eines neuen Lebens ins Leere gegangen, wäre Christus, wie es der Apostel Paulus sagt, umsonst gestorben.  

An Pfingsten, liebe Gemeinde, geht es darum, was in mir zu einer Gewissheit wird, die ein ganzes Leben bestimmt und trägt. Es gibt vieles, was man für wahr oder richtig erachten kann. Vieles nimmt man einfach zur Kenntnis, finden es vielleicht auch interessant, ohne dass es etwas mit einem macht. Es gibt einen Unterschied zwischen den Dingen, die uns äußerlich bleiben und denen, die einsinken, die wir an unsere Seele heranlassen, die uns zu dem machen, was wir sind. Genau an dieser Stelle, an der Grenze von außen und innen, redet die Bibel vom Geist Gottes. Der Geist ist die Art und Weise, in der Gottes Gegenwart zu einer tiefen Gewissheit wird. Ohne diesen Geist kann man „religiös“ sein, kann von Gott reden (oder es sein lassen), aber einen tiefen, existenzbestimmenden, erfüllenden Glauben haben, das kann man nicht. Das ist die Erfahrung von Pfingsten.

Dieser Übergang vom äußeren zum inneren Menschen ist aber nicht nur ein Thema des christlichen Glaubens, sondern markiert einen neuralgischen Punkt unserer Zeit. Was soll man an sich heranlassen und was nicht? Das zu entscheiden, ist vielleicht schwerer geworden als je zuvor war, weil es viel, zu viel gibt, das uns für sich einnehmen, das uns suggerieren will „ich bin etwas für dich“. Es gibt viele Trojaner, die zum innersten Kern unserer Überzeugungen, unseres Glaubens vorgelassen werden wollen, um dann ihr Gift zu verspritzen. Wir leben immer mehr in virtuellen Welten, die darauf ausgerichtet sind, unsere Aufmerksamkeit so zu binden, dass wir hängenbleiben. Algorithmen berechnen die Welt so, dass wir das, was wir sehen und hören, an uns heranlassen, es glauben und uns dabei bestätigt fühlen. Unsere Zeit hat ihre eigenen Geister geschaffen – Geister, die manipulieren, ideologisieren, Geister der alternativen Fakten und der fake news. Das ist das Gegenteil von Pfingsten, weil diese Geister nicht heilen, sondern spalten, nicht beleben, sondern benebeln.

Das Ergebnis ist, dass Menschen Vertrauen und Sicherheit verlieren und sich am Ende alleingelassen fühlen. Tatsächlich sind Isolation und Einsamkeit in unserer Gesellschaft ein großes Thema geworden – ausgerechnet in einer Welt der sogenannten sozialen Netzwerke. Umfragen des Bundesfamilienministeriums der letzten beiden Jahre besagen, dass sich rund zwanzig Prozent der Deutschen als einsam bezeichnen. Und zwar nicht, weil sie allein sind, sondern weil sie sich – selbst in Gesellschaft und sogar in Beziehungen – einsam fühlen. Gerade junge Menschen sind davon betroffen. Psychische Erkrankungen unter Jugendlichen und jungen Erwachsenen haben zugenommen – auch nach der Pandemie. Ich denke an einen meiner eigenen Studenten, ein sensibler junger Mann, der sich verbraucht und ausgelaugt fühlt, weil alles ein bisschen zu viel war, weil es zu viele Einschlagskrater auf seiner Seele gab, die nicht heilen wollten. Und dann zog er sich zurück, hatte Schwierigkeiten, überhaupt noch jemanden an sich heranzulassen. Und nun geht es darum, dass er sein Leben Stück für Stück wieder aufbaut, wieder Vertrauen fasst, aus der Isolation herausfindet, aber eben auch das Toxische, das Manipulative von sich fernhält.

Und da sind wir wieder ganz nahe an der Pfingstgeschichte und bei der Jüngerschaft Jesu, die sich irgendwo verschanzt hatte, weil die Welt da draußen zu viel, zu unabsehbar, zu gefährlich geworden war. Aber gerade darum macht die Pfingstgeschichte auch Mut. Sie holt uns ab und hilft uns weiter. Sie vermittelt die Zuversicht, dass das Feld eben nicht den Geistern gehört, die einen missbrauchen und dann leer und ausgeblutet zurücklassen. Demgegenüber berichtet die Pfingstgeschichte von einer Erfahrung, die Menschen wie du und ich gemacht haben – die Erfahrung, dass es einen Geist gibt, der nichts für sich will, nichts für sich braucht, sondern alles daran setzt, uns Gottes Liebe so nahe zu bringen, dass wir sagen können: „Ja, das ist für mich – das ist für uns“.

Das bringt uns schließlich zu der Pfingst-Kantate, die wir gleich hören werden „Erhöhtes Fleisch und Blut“. Sie werden es vom ersten Ton an spüren: Diese Kantate will Heiterkeit, Leichtigkeit, Trost verströmen. Pfingsten ist ein Fest der Freude, und so soll es auch gefeiert werden. Bach’sche Kantaten können ja durchaus belehrend sein, und nicht selten erhebt sich da ein moralischer Zeigefinger. Nicht aber hier. In dieser Kantate geht es von Anfang bis Ende um Gottes sich ausschüttende Liebe. Gottes ganzes Wesen ist Hingabe, Zuwendung, Fürsorge, die vom Himmel auf die Erde kommt. Aber eben nicht nur auf die Erde, sondern ins Herz eines jeden Menschen. Erst wenn das geschieht, ist Gott angekommen. Erst als dieser Geist erfüllt sich Gottes Wesen. Oder in den Worten der Kantate:

 

So hat Gott die Welt geliebt,
Sein Erbarmen
Hilft uns Armen,
Dass er seinen Sohn uns gibt,
Gnadengaben zu genießen,
Die wie reiche Ströme fließen.
Sein verneuter Gnadenbund
Ist geschäftig
Und wird kräftig
In der Menschen Herz und Mund,
Dass sein Geist zu seiner Ehre
Gläubig zu ihm rufen lehre.

 

An Pfingsten, liebe Gemeinde, schließt sich der Kreis, der im Advent begonnen hat. Advent und Weihnachten handeln davon, dass Gott als Mensch zur Welt kommt. An Pfingsten geht es darum, dass Gott als Geist bei uns bleibt. Das ist kein einfacher Gedanke, weil wir uns Gott ja meistens als eine Art Überperson vorstellen, die einen beobachtet, zu der man redet in der Hoffnung, gehört zu werden; Gott ist jemand, von der man sich etwas erwartet, mit dem man aber auch hadern und von dem man sich verlassen fühlen kann.

Pfingsten dagegen zeichnet Gott anders. Als Geist ist Gott das Kraftfeld der Liebe, das uns umfängt, einnimmt, das uns bewegt, aufrichtet und zum Leben mutig macht. Das war die Erfahrung der ersten Christinnen und Christen, mit der sie nicht gerechnet hatten. So begann Kirche, und so darf Kirche auch heute noch sein.

 

Und der Friede Gottes, der höher ist als all unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.