Predigt zur Sterbestunde am Karfreitag

  • 14.04.2017 , Karfreitag
  • Pfarrerin Taddiken

Predigt Sterbestunde Jesu Karfreitag 2017 Psalm 22 und Johannes 19,16-42

„Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?" Im Sterben betet Jesus diesen alten Psalm des Volks Israel. Worte, die schon so viele geschrien oder gestammelt haben, wenn sie meinten: Jetzt ist alles aus - und ich bin mutterseelenallein und gottverlassen. Aber nicht nur das ist es. Jesus begegnet die Gottesferne wie auch dem ursprünglichen Beter des 22. Psalms in noch anderer Weise. Nämlich in einem vollkommen enthumanisiertem Raum, den der Psalm mit kräftigen Bildern ausmalt. Wo nahezu alles begegnet, was unter Menschen geschehen kann, wenn sie sich über das göttliche Gebot der Menschenliebe und der Solidarität hinwegsetzen: Verachtung, Ausgrenzung, Demütigung, Bloßstellung. Sie nehmen ihm mit der Kleidung seinen letzten Schutz, sie machen ihn zum Wurm. Wie ein wildes Rudel bedrohlicher Hunde nimmt er seine Umwelt war. Hemmungslos entlädt sich all das, was menschliche Abgründe zu bieten haben. Auch vor der Verdrehung der alten Hoffnungstexte von Rettung und Schutz wird nicht halt gemacht, um diesen Menschen zu verhöhnen: „Der Herr wird ihm schon helfen, wenn er Gefallen an ihm hat."

In diesem Psalm hatten die Evangelisten gefunden, wie sie das Ereignis der Kreuzigung Jesu beschreiben konnten. Auch in seinem Sterben geht es nicht nur um den Schmerz und die einsame Verzweiflung am Kreuz, sondern auch um die Klage darüber, dass der Mensch so ist, wie ihn der Beter des 22. Psalms erlebt. Und wie ihn unzählige Menschen erleben auch heute am Karfreitag des Jahres 2017. Die von der Weltöffentlichkeit Vergessenen in den seit Jahrzehnten bestehenden Flüchtlingslagern in den Katastrophengebieten im Sudan und an anderen Orten. Und karfreitäglich nimmt sich auch die politische Ratlosigkeit und Erstarrung aus, mit der die Welt seit Jahren auf Syrien blickt. Giftgas. Der Tiefpunkt der Unmenschlichkeit. LKW rasen in Menschenmengen. Sprengkörper explodieren in Kirchen in Ägypten. Wahlloses Morden aus Hass, das uns in unseren Grundsicherheiten erschüttern will. Das Perfide daran: Wir werden alle beschädigt. Das macht etwas mit uns, ob wir wollen oder nicht, selbst dann, wenn wir sagen: Wir lassen uns davon nicht beeindrucken. Aber auch der Feinsinnigste und Aufrichtigste bleibt nicht verschont, wo der Hass um sich greift. Und wo Leute es darauf anlegen, die Gesellschaft zu spalten. Wo der Spaltpilz erst mal angefangen hat, zu wirken, ist er kaum mehr aufzuhalten und dringt immer tiefer und feiner in die Verästelungen unserer Beziehungen. Auch das gehört zu unserem Menschsein - das Aufrichten unerträglicher Gegensätze. In Psalm 22 ist das wie in den Passionsgeschichten in aller ernüchternd-schrecklichen Klarheit ausgebreitet.

Zwischen der von dem einen schmerzlich erlebten Gottesferne und der vom anderen gelebten Abwendung von Gott gibt es Zusammenhänge. Die erlebte Ausweglosigkeit daraus ist das Thema des Karfreitags. Das äußerlich scheinbare Scheitern Jesu am Kreuz, der doch das Gegenteil von dem gelebt hat, was er jetzt erleben muss: Menschen hereinzuholen in Gemeinschaft und ihre Ausgrenzung zu beenden, sie in ihrer Würde wieder aufzurichten und sich denjenigen gegenüber furchtlos zu zeigen, die alles in ihrer Gewalt zu haben scheinen. So scheint auch die Kreuzigung Jesu den Beweis dafür zu liefern, dass der Mensch sich eben nicht ändert, was das Große und Ganze angeht. Dass er zu allerhand bereit ist und bleibt, wenn es um die eigene Haut geht.

Sowohl Psalm 22 als auch der Evangelist Johannes setzen dieser Resignation etwas entgegen. So spricht aus dem Psalm trotz tiefster Not Zuversicht auf Rettung und Veränderung. Immerhin ruft der Beter noch nach Gott, von dem er sich doch eigentlich verlassen weiß. Wie viel schlechter mag es dagegen jemandem gehen, der nicht mal damit rechnet, gehört zu werden, der nicht sagen kann: „mein Gott", und in sich allenfalls die Frage bewegen mag, die er sich an guten Tagen eben nicht stellt: Wenn es einen Gott gibt - wie kann er das zulassen? Vielleicht mag gerade derjenige die Stille bei der Frage nach dem „Warum" als besonders bedrückend erleben und sich selbst als besonders hilflos. Der Beter hat aber noch einen weiteren Anhalt: die Erinnerung daran: Dieser Gott, nach dem er jetzt ruft, hat seinem Volk immer geholfen. Unsere Väter hofften auf dich und da sie hofften, halfst Du ihnen heraus. Zu dir schrien sie und wurden nicht zuschanden. Immer wieder führte der Weg hinaus aus Knechtschaft und Sklaverei, immer wieder gab es neue Anfänge mit diesem Gott. Der Beter weiß, er ahnt es zumindest: Es gibt immer mehr als den einsamen Schrei. Wir sind immer mehr als nur wir selbst, wir sind mehr als die Summe unserer enttäuschten Hoffnungen und Verletzungen. Wir sind immer mehr als das Elend, als das wir uns selbst fühlen - und wir sind auch mehr als das, was wir anrichten. In diesem Vertrauen seines Volkes hat auch Jesus gelebt, an dieses lebendige Vertrauen hat er Menschen erinnert, hat es wieder hergestellt. Und zum dritten macht der Psalmbeter die Erfahrung: Gott spricht ihn noch mitten im Elend an. „Aus den Hörnern der Stiere antwortest Du mir". Gott spricht zu ihm mitten in der verletzenden Konfrontation mit den Bedrängern.

Eine Erfahrung, wie sie auch in der bewegenden Dichtung des Autors Zvi Kolitz zur Sprache kommt, die sich wie eine neuzeitliche Fortsetzung von Psalm 22 anhört. Darin spricht Jossel Rakover in den Ruinen des Warschauer Ghettos, das die Deutschen nach dem Aufstand dem Erdboden gleichgemacht hatten, mit Gott - und hält dabei nichts zurück. „Gott, ich sage Dir das jetzt alles so deutlich, weil ich an Dich glaube, weil ich mehr an Dich glaube als je zuvor - weil ich jetzt weiß, dass Du mein Gott bist. Denn Du bist doch nicht, Du kannst doch nicht der Gott jener sein, deren Taten der grauenvollste Beweis ihrer aggressiven Gottlosigkeit sind. Denn wenn Du nicht mein Gott bist - wessen Gott bist du dann? Der Gott der Mörder? Wenn die, die mich hassen, die mich morden, so finster sind, so schlecht, wer bin dann ich - wenn nicht jemand, der etwas von Deinem Licht verkörpert und von Deiner Güte? Ich aber glaube an den Gott Israels, auch wenn er alles getan hat, dass ich nicht an ihn glauben soll. Ich glaube an seine Gesetze... auch wenn ich mich in ihm getäuscht hätte - seine Tora würde ich weiterhüten". Im elenden Menschen zeigen sich Licht und Güte Gottes! Die Unterscheidung zwischen Unrecht und Recht in Gottes Gebot wird auch angesichts bestialischer Gewalt und menschlicher Fähigkeit zur Unmenschlichkeit aufrechterhalten. So wird in der Ansprache des Leidenden zugleich das Urteil über die Taten der Täter gesprochen. Ihre Erbarmungslosigkeit und Menschenverachtung werden benannt als Widerstand gegen Gottes Lebensregeln.
So hört auch der Psalmbeter aus dem Angriff, der ihn vernichten will, Gottes Trost heraus und er erkennt ihn an seiner Seite. Gott setzt ihn ins Recht. So bekommt in ihm Gottes Ruf zur Menschlichkeit, gegen den seine Verfolger anwüten, eine Gestalt.

Das findet sich auch in der Passionsgeschichte des Johannes. Die Gegner Jesu können machen, was sie wollen: Immer gerät es ihnen zum unfreiwilligen Zeugnis für die Gotteserfahrung, von der Psalm 22 erzählt. Die Inschrift über dem Kreuz tituliert Jesus als den König der Juden - aber auch der ganzen Welt, wie alle damals gängigen Weltsprachen verkünden. Die Soldaten, die sich über die Kleider hermachen, sind nichts weiter als Erfüllungsgehilfen einer längst geplanten Geschichte. Um die Kleider können sie würfeln, ja, aber die Botschaft Jesu ist unteilbar wie der von oben an in einem Stück gewebte Mantel.

Und: Der geschundene Jesus regelt die Verhältnisse, weist jedem den Helfer zu, den er braucht, der Mutter den Sohn, dem Sohn die Mutter. Er stiftet Beziehungen. Er macht weiter wie bisher. Er lässt weiter neue, ungeahnte Verbindungen des Lebens wachsen. Angesehene Gestalten wie Josef von Arimathäa und Nikodemus erinnern sich an die Predigt der Barmherzigkeit Jesu. Und sie überwinden ihre Menschenfurcht, die sie wie Nikodemus nur heimlich und in tiefer Nacht handeln ließ. Sie setzen jetzt, mitten am Tag und in aller Öffentlichkeit, ein Zeichen von Zuneigung und Liebe. Sie geben ihr eigenes Grab her und Hundert Pfund wohlriechender Aloe und Myrrhe. Unter dem Kreuz wird schon das neue Leben sichtbar, das aus diesem Kreuz wachsen wird. Blut und Wasser kommen aus der Wunde, die ihm einer der Soldaten zufügt. Auch dieser Soldat wird zum unfreiwilligen Zeugen der Wahrheit: Was zum Beweis des Todes dienen sollte, wird zum Zeichen des Lebens. Das Kreuz wird zum Quell neuen Lebens.

Am Karfreitag machen wir uns bewusst: Gott selbst setzt sich in Jesus der Gottesferne aus: Derjenigen, in der man sich seiner Machtlosigkeit und Einsamkeit ausgeliefert sieht. Und auch der, in der Menschen auf die göttlichen Gebote des Lebens nicht eingehen und sie nicht annehmen. In Jesus überwindet er beides. Für uns. Auch unsere Gefühle der Hilflosigkeit, der Verzweiflung und der Vergeblichkeit haben nicht das letzte Wort über uns, auch nicht am Karfreitag. Im Kreuz Jesu ist schon der Anfang neuen Lebens gesetzt. Für alle Welt. Amen.

Britta Taddiken, Pfarrerin an der Thomaskirche, taddiken@thomaskirche.org