Rede von Liubov Lysenko zum Benefizkonzert für Kiew am 13. März 2022

  • 13.03.2022 , 2. Sonntag der Passionszeit - Reminiszere

Danke! Dieses Wort wurde in meinem Herzen geboren, als ich dachte: "Wo soll ich mit dieser Rede anfangen?"

Ich erinnerte mich sofort an die Worte des genialen deutschen Theologen Johannes Eckhart von Hochheim, der sagte: „Wenn das einzige Gebet, das du in deinem Leben sagst, das Wort ‚Danke‘ wäre, wäre das genug.“ Ich füge hinzu: nein, das reicht nicht.

Deshalb rufe ich heute stellvertretend für Tausende meiner Landsleute Ihnen allen dankend Gottes Segen für das deutsche Volk entgegen. Die Menschen, die sich in diesen Tagen als echte Brüder und Schwestern des ukrainischen Volkes erwiesen haben. Schließlich haben Sie statt leerer Worte Ihre Herzen und die Türen Ihrer Häuser geöffnet. Statt „tiefer Sorge“ beherbergen Sie hilflose Frauen und Kinder, während ihre Männer und Väter die Front halten und sich mit eisernem Schild der Moskauer Horde in den Weg stellen. Es sind die Horden – das ist keine Übertreibung. Denn nur eine rücksichtslose wilde Horde ist in der Lage, Wohnviertel unserer Städte während des Krieges in Trümmer zu verwandeln, Zivilisten und Ärzte bei der Evakuierung  kaltblütig zu erschießen und die Welt mit beschlagnahmten Atomkraftwerken zu erpressen. Oder das Entbindungsheim in Mariupol durch Feuer zu zerstören – das hat sogar der Leiter des russischen Außenministeriums, Herr Lawrow, eingeräumt. Er stellte jedoch fest, dass das russische Militär versuchte, ukrainische Neofaschisten anzugreifen, die sich angeblich dort versteckt hielten. Stattdessen trafen Nicht-Menschen auf schwangere Frauen und junge Säuglinge. Und diese Bilder flogen um die Welt. Inzwischen ist die Zahl der Kinderopfer mehr als Hundert… Und es ist unglaublich, dass wir erst vor zwei Monaten Weihnachten zu Ehren des Jesuskindes gefeiert haben und in der vorigen Woche ein vierzig Tage altes ukrainisches Baby an einer Lungenentzündung gestorben ist – weil es konnte ohne Wärme im kalten Luftschutzkeller in den Ruinen der zerstörten  Stadt nicht überleben…

Warum spreche ich heute, an diesem heiligen Sonntag, über diese schrecklichen Dinge? Warum kommt das Wort über den Krieg genau hier über meine Lippen, im Heiligen Tempel für Christen auf der ganzen Welt – ein Ort des Gebets für den Frieden? Denn der Herr Jesus Christus sagt im Evangelium: "Ich habe keinen Frieden auf die Erde gebracht, sondern ein Schwert!" Natürlich geht es hier nicht um Aggression. Es geht um ein anderes Schwert: das eine, das Gute von Bösen trennt, Licht von Dunkelheit, Lügen von der Wahrheit Gottes. Gerade aus Deutschland erklang einst die Stimme Martin Luthers, der dazu aufrief, die Heilige Schrift nicht nur zu lesen, sondern zu verstehen. In Deutschland hat der fromme Leipziger Kantor das Evangelium komponiert und die Menschenherzen mit solcher Wucht berührt, dass der Dichter Joseph Brodsky im 20. Jahrhundert erklärte: „In jeder Musik ist Bach, in jedem von uns – Gott …“ Schließlich aus Deutschland hörte die ganze Welt den Aufruf von Beethoven und Schiller an Millionen von Menschen guten Willens – sich zu umarmen und wie Brüder zu werden… Aber nicht wie die Ukraine mit Russland, denn die Geschichte ihrer Bruderschaft ähnelt eher der Geschichte von Abel und Kain. Glauben Sie, dass der ukrainisch-russische Krieg erst zweieinhalb Wochen dauert? Nein, er begann im zwölften Jahrhundert, als die Ländereien von Kiew von den sogenannten nördlichen "Bluts- und Glaubensbrüdern" verwüstet wurden. Später nannte sich Moskovia, das achthundert Jahre nach Gründung Kiews auf der Weltkarte erschien, sein großer Bruder. Und obwohl die goldenen Kuppeln der Kiewer Kathedralen, die Kultur und Kunst der Kiewer Rus das Gegenteil bezeugten, reklamierte Moskau hartnäckig die Ansprüche seines älteren Bruders. Aber nach und nach griff es gezielt die Rechte der freiheitsliebenden ukrainischen Kosaken an. Noch heute rechtfertigt Putin Kains Sünde mit den Worten: Die Ukraine hat nie existiert – sie entstand erst als politisches Projekt im 20. Jahrhundert mit dem Aufkommen der Sowjetunion. Sie wurde von Lenin ausgedacht.

Der Begründer der ukrainischen Klassik, Mykola Lyssenko, erhielt indes im 19. Jahrhundert in Leipzig seine europäische Musikausbildung und schrieb lange vor Existenz der Sowjetunion seine Hymne „Herrgott, Allmächtiger, Allvater, behüte für uns die Ukraine...“. Diese geistige Hymne ist ein Gebet, das im vorigen Sonntag vom Thomanerchor und Calmus Ensemble auf Ukrainisch und Deutsch in der Thomaskirche aufgeführt wurde. Die Menschen haben es sich stehend angehört.

Jeden Tag beten wir mit euch als wahre Brüder und Schwestern. Aber ich rufe: für die, die gestorben sind, // für die, die noch gerettet werden können: // lasst uns nicht aufhören, die Ukraine zu unterstützen. Ja, manchmal müssen wir dafür auf Komfort oder ein profitables Geschäft verzichten. Aber fragt uns Christus heute nicht: "Was nützt es einem Menschen, wenn er die ganze Welt gewinnt und seine Seele zerstört?" Und der Apostel Jakobus fügt hinzu: „Glaube ohne Werke ist tot.“ Lasst uns also um das Licht und die Wahrheit Gottes vereinen. Und wieder einmal beweisen wir, dass die Worte „Menschlichkeit“ und „Christentum“ synonym sind. Sowohl für Deutsche als auch für Ukrainer. Und schließlich die Worte des großen Goethe: „Wenn das Gesetz zur Gesetzlosigkeit wird, dann wird der Widerstand zur Pflicht“. Und noch –  aus Faust:

"Nur der verdient sich Freiheit wie das Leben,
Der täglich sie erobern muß. "

Dozentin der Nationalen Peter Tschaikowski Musikakademie der Ukraine,

Kulturwissenschaftlerin und Schriftstellerin,

Liubov Lysenko